Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Paukenschlag in der Auseinandersetzung zwischen Gerichten und Zentralbanken. Die Politik taucht in der europäischen Frage weiter ab. Es ist Zeit, die wirtschaftliche und soziale Integration Europas endlich wieder als politisches Projekt anzugehen!
Das Bundesverfassungsgericht hält ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank für teilweise verfassungswidrig. Ob das Urteil direkte (z.B. eine wirkliche Veränderung der EZB-Praxis) oder indirekte Folgen (z.B. eine Stärkung von EU-Staaten mit stärkerer politischer Kontrolle über die Justiz wie Ungarn oder Polen) haben wird, bleibt abzuwarten.
Was aber auffällt: Die Zukunft der europäischen Integration scheint zu einer reinen Auseinandersetzung von Zentralbanken und Gerichten geworden zu sein. Schon die Ankündigung des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi im Jahr 2012, den Euro zu retten – „whatever it takes“ -, offenbarte das Abtauchen der Politik. Die EZB sprang ein, tat das, wofür die Politik zu schwach war, und sorgte in der aufgeheizten Krisenstimmung für Beruhigung und Stabilität. Wieder aufgetaucht ist die Politik seitdem nicht.
Für Europas Zukunft steht viel auf dem Spiel. Wir brauchen ein Modell des Fortschritts, das der europäischen Wirtschaft in der globalen Konkurrenzsituation zu chinesischen Staatsunternehmen und US-amerikanischen Tech-Konzernen eine Zukunftsperspektive gibt, die nicht Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten und Sozial- und Umweltstandards heißt. Wir brauchen eine Digitalisierung, die nicht zu einem gigantischen Ausbeutungsprojekt wird. Wir brauchen Innovationen, die uns nachhaltiger produzieren und leben lassen. Und wir brauchen die Garantie von innerer, außenpolitischer und vor allem sozialer Sicherheit.
Für all das sind die europäischen Nationalstaaten in einer globalisierten Welt zu klein. Eine Zukunftsperspektive wird es nur geben, wenn Europa endlich die Geburtsfehler des Euros beseitigt und die gemeinsame Integration gezielt in den Bereichen Wirtschaft und soziale Sicherheit voranbringt.
Europa braucht eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik: Gezielte Investitionen in die gemeinsame Zukunft, die Fortschritt schaffen und soziale Ungleichheiten ausgleichen. Die notwendige Wiederbelebung der Konjunktur nach der Corona-Krise ist für die Politik der richtige Zeitpunkt, um in der europäischen Frage endlich wieder das Heft in die Hand zu nehmen.